
2. Bloß nicht herunterfallen
Nachdem Charlene im Krankenhaus alle Krankenschwestern verrückt gemacht hat, ist sie entlassen worden. Jetzt sind sie zu Hause, Charlene und das kleine Bündel Mensch. Zusätzlich wirbelt ein Kindermädchen um Mutter und Kind. Die Mutter von Victoria möchte sich nicht alleine um das Baby kümmern. Außerdem möchte Charlene in zwei Wochen wieder arbeiten. Die neue Rolle in einem Film wurde für sie reserviert, aber unter der Voraussetzung, dass sie diese Rolle innerhalb der nächsten zwei Wochen antritt. „Selma, nehmen Sie das Baby und wickeln Sie es. Vicky stinkt“, sagt Charlene angewidert. Das Kindermädchen Selma nimmt die kleine Victoria und trägt sie in das Kinderzimmer, wo der Wickeltisch steht. Selma liebt ihren Job und ist jedes Mal traurig, wenn sie sieht, wie diese reichen Mütter mit ihren Kindern umgehen. Sie legt das Baby auf den Wickeltisch. Emma steht gegenüber in der Nähe der Tür und passt wie immer auf. Der Wickeltisch ist für jedes Baby eine schreckliche Falle. Die Kleinen wälzen sich auf der Ablage unbemerkt hin und her und fallen anschließend herunter. Normalerweise sind Babys durch den weichen Körperbau etwas geschützt, aber manchmal passiert etwas Schlimmeres als blaue Flecken. Emma will das nicht erleben, sie hat davon im Theoriekurs gehört. Selma dreht sich zum Schrank um, wo die Windeln in einer Lade untergebracht sind. In diesem Moment gluckst das kleine Baby und dreht sich auf die Seite. Emma hebt den Zeigefinger und bündelt ihre Energie. Das Baby dreht sich wieder zurück. Selma wendet sich um und fängt an zu wickeln. Das Kindermädchen ahnt nicht, wie knapp das war. Aber Emma hat gelernt, dass Anerkennung im Leben eines Hüters sehr selten ist.
Die Menschen sagen nach einem beinahe Unfall meistens: „Da hab ich aber mindestens einen Schutzengel gehabt.“ Meistens ist es auch nur einer. Wenn sich eine mittlere Katastrophe im Leben eines Menschen anbahnt, kommt manchmal Verstärkung dazu. Aber für die Menschen ist die Anwesenheit eines Schutzengels nur surrealer Aberglaube. Aber das macht nichts, denkt Emma, das gehört zum Job dazu. Die Unsichtbarkeit und die ständige Verfügbarkeit sind die wesentlichen Bestandteile dieser Aufgabe. Emma hat damals zu ihren Lebzeiten das Recht auf einen Schutzengel oder Hüter verwirkt. Durch Fahrlässigkeit und Dummheit, das weiß sie heute. Deshalb hat sie die Möglichkeit, ihre Fehler wiedergutzumachen. Bei Vicky zum Beispiel. Selma nimmt Vicky vom Wickeltisch und hält sie geborgen im Arm. Emma weiß, dass Selma keine eigenen Kinder bekommen kann und deshalb diesen Job ausgewählt hat. Selma ist schon im Leben eine Hüterin. Das bewundert Emma und sie sieht dem Kindermädchen zu, wie es das Kind schaukelt und ein Lied summt. Vicky schläft ein und Selma legt sie in das kleine Bettchen. Beide, Emma und Selma, fühlen die große Liebe, die sie mit dem Kind verbindet.
Das ist die einzige Zeit, wo Emma in den ersten Wochen abwesend sein darf. Wenn das Kind schläft und sichergestellt ist, dass es nicht zu warm ist oder eine Decke über dem Kopf ist. Dann kann Emma etwas Pause machen. Sie folgt Selma in die Küche, wo Charlene gerade ihren Obstsalat isst. „Schläft das Baby?“, fragt Charlene das Kindermädchen. „Tief und fest.“ „Gut, dann können Sie die Wäsche machen. Da stapelt sich die Wäsche.“ „Ja, mache ich sofort.“ Selma ist als Kindermädchen mit Zusatzfunktion in dem Haushalt. Sie sorgt nicht nur für Victoria, sondern hilft auch dem Hausmädchen Rosa im Haushalt. Emma steht neben dem Kühlschrank und fühlt sich in diese Situation hinein. Sie kann die tiefen Gefühle der Menschen spüren, was ein Segen und ein Fluch zugleich ist. In diesem Moment geht die Tür auf und der Kindsvater Peter kommt in die Küche. „Hallo Schatz, wie geht es Vicky?“ „Mir geht’s gut, danke der Nachfrage. Vicky schläft.“ Seit der Geburt streiten die beiden sehr viel. Charlene ist ständig gereizt und Peter liebt das Baby abgöttisch. Emma spürt in seiner Anwesenheit immer Charlenes Eifersucht. „Ach Charly, du weißt doch, dass ich dich liebe.“ Erwidert Peter und will seiner Frau einen Kuss geben. Charlene dreht den Kopf allerdings zur Seite und giftet: „Sag nicht Charly zu mir. Du weißt, wie ich das hasse.“ Charlene steht vom Küchentisch auf und verlässt die Küche.
Peter geht an den Kühlschrank. Emma spürt, dass ihn die Zurückweisung traurig macht. Er sucht etwas, macht aber den Kühlschrank wieder zu und setzt sich an den Tisch. Er scheint sehr müde zu sein, was kein Wunder ist. Peter ist Musikproduzent und er verbringt oft Tage im Aufnahmestudio ohne viel Schlaf. Emma würde ihm gerne Energie senden, denn Peters Schutzengel ist nur sporadisch anwesend. Im fortgeschrittenen Alter müssen die Menschen nicht ständig beschützt werden. Sie kommen gut alleine zurecht. Emma darf ihm aber keine Energie senden. Peter verlässt die Küche und geht raus. Etwas bedrückt geht Emma zurück zu ihrem Schützling. In diesem Haus ist so viel negative Energie, dass es schwer ist, positiv zu bleiben. Victoria schläft immer noch und Emma setzt sich auf den Stuhl. Sie denkt, wie so oft, an ihr eigenes verpfuschtes Leben …
