Hüter in Ausbildung

3. Verletzende Worte

Als Emma noch lebte, war sie ein verzogenes Gör. Wenn man stirbt, bekommt man über sein Leben einen Überblick, eine Zusammenfassung. Eine Liste mit Dingen, die man gut gemacht hat, aber auch eine Liste mit Dingen, die nicht so gut waren. Emmas Liste war zum Ende ihres eigenen Lebens auf der Minusseite vollgestopft. Sie war selbstsüchtig und hat andere wie Dreck behandelt. Während Vicky friedlich in ihrem Bettchen schläft, erinnert sie sich an eine besonders fiese Zeitspanne ihres Lebens. Zwei Tage vor ihrem achtundzwanzigsten Geburtstag war Emma wieder einmal beschäftigt damit, eine Line Koks zu ziehen. Sie war der festen Überzeugung, dass ihr Geburtstag nicht nur an einem Tag gefeiert werden darf. Kurzerhand machte sie ihren Geburtstag zur Geburtstagswoche. Finanziell konnte sie es sich leisten, denn ihre Eltern stopften Emma alles in ihren Rachen. Emma hatte noch keinen einzigen Tag in ihrem Leben arbeiten müssen. Dafür hatte sie keine Zeit, sie musste ihr Leben feiern. Vollgepumpt mit Drogen und Alkohol, manövrierte sie sich durch die Menschenmenge. Diese Leute kannte sie nur zum Teil, denn bei jeder Party, die Emma gab, nahm jeder Freund oder Bekannte einen weiteren Freund mit. Dann konnte es passieren, dass alles aus dem Ruder lief. Aber Emma war das egal, zum Zusammenräumen hatte sie Personal. In ihrem Rausch setzte sie sich zu Leuten, die sie noch nie gesehen hatte. Ein unscheinbares Mädchen, das sich offensichtlich fehl am Platz fühlte und sehr traurig aussah, saß neben Emma. Mit ihrer gewohnt unverschämten Art sagte Emma: „Ey, Mauerblümchen. Bin du noch Jungfrau oder warum klemmst du deine Beine so zusammen? Was hast du für eine Lebensberechtigung und was machst du auf meiner Party? Hier sind nur coole Menschen. Du passt hier nicht hin.“ Das Mädchen kämpfte mit den Tränen, stand auf und rannte aus dem Raum. Emma wiehert ihr Partylachen und wendete sich dem nächsten Partygast zu. Was Emma zu dem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass dieses Mädchen vor kurzem ihre Eltern verloren hatte und ihr Bekannter sie zur Ablenkung auf die Party mitgenommen hatte. Das Mädchen, dessen Name Emma nicht einmal kannte, verließ die Party und ging nach Hause. In dieser Nacht, das Mädchen hatte aufgrund des Verlusts der Eltern sowieso keinen Lebenswillen mehr, schnitt sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Der bescheuerte Vortrag von Emma hatte dem armen Mädchen den letzten Rest gegeben. Aber das hatte Emma zu Lebzeiten nie erfahren. Erst in ihrer Lebensübersicht war das eine der dunkelsten Episoden auf der Minusliste. Emma war ihr ganzes, kurzes Leben ein unmöglicher Mensch, verwöhnt, überheblich und beleidigend. Auch ihren Eltern gegenüber war sie sehr respektlos. Aber die Eltern hatten mit Emma nur ein Kind und Emma war ein Frühchen. Dadurch hatten die Eltern von Anfang an das Gefühl, alles für ihr Kind tun zu müssen. Der Gedanke an ihre Eltern macht Emma traurig. Sie schämt sich, denn sie hat ihren Eltern nie Dankbarkeit entgegengebracht. Mit der Aufgabe als Hüter hat sie die Chance, etwas Gutes zu bewirken. Vicky bewegt sich, sie scheint wach zu werden. Sie weint und Emma fühlt, dass Vicky sich einsam fühlt. In diesem Moment kommt Selma in das Zimmer und hebt das Baby aus dem Bett. „Psst, kleine Maus. Du bekommst gleich dein Fläschchen. Danach gehen wir eine Runde in den Park, was hältst du davon?“, sagt Selma leise. Die ruhige Art von Selma bewirkt, dass Vicky sich beruhigt und sie mit großen Augen ansieht. Emma hat nie Kinder gehabt, das passte nicht in die Lebensplanung von Drogen- und Alkoholexzessen. Vielleicht ist das auch besser so. Sollte Emma sich einmal entscheiden, wieder als Mensch auf die Erde kommen zu wollen, hat sie sich fest vorgenommen, einen anderen, besseren Weg einzuschlagen. Vielleicht mit einer eigenen kleinen Familie. Jetzt muss sie sich aber wieder konzentrieren, denn es kommt eine weitere Episode „Wickeltisch“ und ein Ausflug in den Park. Als Hüter darf sie sich nicht ablenken lassen, auch nicht von ihrer Reue bezüglich ihres eigenen Lebens. Doch das ist mit den vielen Minuspunkten nicht so einfach. Aber Hektor hat ihr erklärt, dass jeder Hüter während der Einschulung immer wieder damit konfrontiert wird. Jede Situation der Schützlinge kann aufzeigen, was man selbst alles falsch gemacht hat. Das gehört zur Seelenheilung dazu. Emma sieht sich die kleine Vicky an und hofft von Herzen, dass ihr Leben erfüllender ist, als ihr eigenes. Vor allem länger, denn Emma konnte ihren dreißigsten Geburtstag nicht mehr feiern. Konzentriere dich jetzt Emma, ermahnt sie sich selber. Selma hebt Vicky in den Kinderwagen, nachdem sie ihr Fläschchen und eine neue Windel bekommen hat. Die beiden verlassen das Haus und Emma folgt ihnen. Die Sonne scheint, es ist ein wundervoller Frühlingstag. Im Park angekommen fängt Vicky an zu husten und nach Luft zu schnappen. Selma hebt die Kleine aus dem Kinderwagen. Emma spürt Selmas Panik. Irgendwas stimmt nicht mit Vicky. Selma klopft dem Baby sanft auf den Rücken, weil sie denkt, es hätte sich mit der Babynahrung verschluckt. Das Baby hustet und röchelt aber weiter. Selma ruft um Hilfe und Emma versucht herauszufinden, was los ist. Vicky scheint an irgendetwas zu ersticken. Emma ruft laut nach Hektor. Sie schafft das nicht ohne Hilfe. Plötzlich friert die Szene ein. Hektor steht plötzlich neben Emma. Hüter auf seiner Stufe können für einen kurzen Moment die Zeit einfrieren. „Hallo Emma, ich habe es schon von der Ferne gesehen. Eine heikle Situation und entscheidend. Jetzt hilft nur noch eines …

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error: Na na na, wer wird denn hier meinen Inhalt mitnehmen ;-) Versuch doch einmal selber eine Geschichte zu schreiben :-)