
6. Hilfe von unerwarteter Seite
Frieda ist nun schon sechs Wochen angestellt und beherrscht Vickys Kinderzimmer im Armeestil. Alles wird nach Liste abgearbeitet, keine Emotionen, keine Freude. Emma sitzt zusammengesunken in der Ecke des Kinderzimmers. Sie hat wenig zu tun, denn solange Frieda alles kategorisch abarbeitet, passiert nicht viel. Die Aura um die kleine Vicky ist dunkel. Charlene sieht nicht was passiert, denn sie arbeitet momentan rund um die Uhr. Emma hat versucht, mit Hektor Kontakt aufzunehmen, aber der ist scheinbar mit seinem aktuellen Schützling schwer beschäftigt. Er hat Emma nur geraten, durchzuhalten, denn es wird besser werden. Aber solange Frieda die Betreuung der kleinen Vicky über hat, wird sich an der Atmosphäre nichts ändern. Es ist trüb in dem einst so lebhaften Kinderzimmer.
Die Haustür geht auf und Charlene kommt überraschenderweise nach Hause. Frieda blickt in Richtung Tür und sagt: „Hallo, schon zu Hause?“ „Ja, Frieda, ich brauche eine Pause und bleibe heute Nachmittag daheim. Ich würde gerne spazieren gehen und nehme Vicky mit.“ „In Ordnung, dann gehe ich heute früher.“ „Sehr gerne.“ Charlene hat einen skeptischen Unterton in der Stimme. Emma ist überrascht, denn sonst kümmert sich Charlene kaum um das Auftreten vorn Frieda. Diese schnappt sich ihren Mantel und sagt wieder in diesem Befehlston: „Gewickelt und gefüttert ist Vicky. Sie hat sich heute komplett eingesaut. Deshalb wurde sie auch von mir gebadet. Schönen Tag noch.“ Charlene hört gar nicht richtig hin. Seufzend lässt sie sich auf die Couch fallen und schließt die Augen, während Frieda das Haus verlässt. Vicky jammert ganz leise. Charlene steht auf und geht ins Vickys Zimmer. Irgendwie ist dieses Zimmer sehr düster. Charlene öffnet die Vorhänge und das Fenster und lässt die Sonne rein. Viel besser, denkt sie bei sich. Sie dreht sich zum Baby um und für einen kurzen Moment spürt sie Unbehagen. Sie wischt dieses Gefühl beiseite und nimmt Vicky in den Arm. Vicky verkrampft sich zuerst und entspannt sich erst, als sie merkt, dass es Charlene und nicht Frieda ist. Das Baby schmiegt sich an seine Mutter und wimmert leicht. Charlene streichelt ihr über den Kopf und trägt die Kleine zum Wickeltisch. Sie zieht sie für den Spaziergang an. In Gedanken geht sie den heutigen Tag durch. Es war einfach zu anstrengend, nicht nur der heutige Tag. Sie hasst es, wenn ihr alle sagen, was sie zu tun hat. Diese Rolle fordert ihre ganze Energie und ganz langsam geht diese zur Neige. Wie in Trance hebt sie ihre Tochter auf, schnappt sich ihre Tasche und Jacke und geht vor die Tür. Sie schließt ab und setzt das Baby in den Kinderwagen, der vor der Tür steht. Ein tiefer Atemzug und Mutter und Tochter setzen sich in Bewegung Richtung See. Dieser Platz ist Charlene der liebste, da er sie an Ihre Kindheit erinnert. Da kann sie sein, wer sie früher einmal war. Dieses zickige Biest war Charlene nicht immer. Das Leben hat sie zu dem gemacht, was sie ist. Ab und zu denkt sie daran, ihr Leben zu ändern, aber dann kommen ihr Stolz und ihre Sturheit wieder hervor und wischen all diese Gedanken beiseite. Sie ist eine Berühmtheit. Nichts ist wichtiger. Zumindest glaub Charlene das im Bewusstsein, das Unterbewusstsein denk anders darüber.
Der Kinderwagen rollt problemlos über den Schotterweg rund um den See. Immer noch in einer Art Trance sieht sie über das spiegelnde Wasser des Sees. Ein paar Boote schwimmen über die sanften Wellen des Sees zwischen den zahlreichen Seerosen. Eine kühle Brise weht Charlene die Sorgen aus dem Gesicht, sie lächelt. Sie merkt gar nicht, dass ihr jemand entgegenkommt, sie hat das Gefühl, ganz alleine an diesem wundervollen Ort zu sein. Emma ist aber knapp hinter Charlene. Die Trance, in der sich die Mutter befindet, ist möglicherweise gefährlich, denn sie achtet nicht auf den Weg. Ab und zu sind Löcher und große Steine am Weg und der Kinderwagen ist nur für die Stadt geeignet. Emmas Vorahnung ist nicht unbegründet, denn plötzlich fährt Charlene mit dem Kinderwagen in ein Loch und der Kinderwagen kippt. Charlene träumt noch halb, der Kinderwagen scheint in das Wasser des Seeufers zu fallen. In diesem Moment sind zwei Hände da, um zu helfen. Emma braucht gar keine Energie, um diesen Unfall zu verhindern, denn jemand anderer greift ein. Es ist Selma. Sie schnappt sich den Kinderwagen und stellt ihn wieder auf. Charlene sieht verdutzt in das freundliche Gesicht des ehemaligen Kindermädchens. „Na, hoppla“, sagt Selma freundlich. „Oh, oh mein Gott, fast wär …“ Charlene ist sehr erschrocken, doch Selma beruhigt: „Es ist ja noch einmal gut gegangen. Keine Sorge, die Kleine schläft immer noch, sie hat gar nichts bemerkt.“ „Danke, Selma, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Charlene sieht bedrückt auf den Boden. „Nichts zu danken, ich war zufällig hier, um etwas zu entspannen und hab von Weiten gesehen, dass Sie hier mit Vicky spazieren. Eigentlich wollte ich nur Hallo sagen. Also Hallo.“ „Hallo, Selma, wie geht es Ihnen?“ „Na ja, es geht. Möchten Sie mit mir einen Kaffee im Pavillon da drüben trinken? Sie scheinen etwas erschöpft zu sein.“ Emma hat ganz vergessen, wie empathisch Selma eigentlich ist. Ihr kann man nichts vormachen, denkt Emma amüsiert. „Ja, ich bin sehr erledigt. Diese Rolle fordert alles von mir. Sehr gerne, trinken wir einen Kaffee.“ Die beiden gehen nebeneinander her und Selma erzählt von ihrem jetzigen Job. Dann erzählt Charlene von den Problemen am Set und welche Schwierigkeiten beim Dreh entstanden sind. Emma folgt den beiden mit einem Abstand und sieht über den See. Dieser Platz ist wirklich sehr schön, so vollkommen und ruhig. Beim Kaffee scheinen die Lebensgeister etwas in Charlene zurückzukehren. Die beiden Frauen unterhalten sich gut, mit respektvollem Abstand, aber sehr freundschaftlich. Selma schaltet die Spieluhr von Vicky ein und Vicky schnappt sich plötzlich Selmas Finger. Dann sagt Charlene: „Selma, ich weiß, das ist jetzt etwas überraschend, aber ich denke, Vicky vermisst Sie. Die neue Kinderfrau ist nicht sehr liebevoll und außerdem kostet sie eine Menge. Wollen Sie nicht zurückkommen?“ Selma blickt ihre ehemalige Arbeitgeberin skeptisch an. „Darf ich mir das überlegen?“ „Selbstverständlich. Ich muss sagen, ich vermisse ihre freudige Art auch etwas. Aber wehe, Sie erzählen jemanden, dass ich das gesagt hab.“ „Keine Sorge“, Selma zwinkert, „ich verrate niemanden, dass sie menschlich sind.“ Charlene erwidert nichts, denn die Erschöpfung nagt immer noch an ihr. Normalerweise würde sie jetzt wütend sein, aber dafür hat sie keine Kraft. „Nun, ich muss wieder los, darf ich erwarten, dass Sie sich bis morgen bei mir melden?“ „Ja, ich rufe Sie morgen an. Der Kaffee geht auf mich. Entspannen Sie sich noch etwas und nicht wieder umkippen, egal ob Sie oder der Kinderwagen, gut?“ „Danke.“ Selma erschrickt fast, denn ein Dank kam nie über Charlenes Lippen. Sie lächelt Sie an und antwortet: „Gerne geschehen.“ Charlene verlässt das Café und Selma sieht ihr nach. Emma folgt ihr und ist voll Hoffnung. Hoffnung auf das richtige Kindermädchen.

