Ursache und Wirkung

Es wird zuerst schlimmer, bevor es gut wird

Hanna fühlt sich vom Pech verfolgt. Sie hat ihre Wohnung verloren, weil sie vergessen hat, die letzte Miete einzuzahlen. Jetzt hat ihr Boss sie auch noch gekündigt. Sie versteht die Welt nicht mehr. Vorgestern hat sie einer Kollegin geholfen, die Betten zeitgerecht fertig zu machen. Sie sind nicht rechtzeitig vor Dienstschluss fertig geworden. Jetzt schiebt diese Kollegin die Verspätung auf Hanna. Wie auch die letzten Male. Immer wieder hat sie sich geschworen, niemanden mehr zu helfen. Denn am Ende ist immer sie schuld an allem. Leider hält sie sich nicht an ihre eigenen Vorsätze. So ist Hanna einfach, sie gibt alles, bis zum bitteren Ende. Meistens zu ihrem eigenen Nachteil. Umso mehr ist sie verwirrt, wenn ihr unangenehme Dinge passieren.

Jetzt wohnt sie zu Hause bei ihrer geschiedenen Mutter. Das Leben mit ihrer Mutter ist nicht sehr einfach, weil die Mutter, genauso wie viele andere Personen in Hannas Leben, ihre Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft ausnutzt. Hanna kommt aus ihrem ehemaligen Kinderzimmer die Stufen hinunter und grübelt, wie sie alles noch retten kann. „Hanna, geh bitte rüber zum Supermarkt und hol mir meine Zigaretten. Ich bin so müde.“ Hanna verzieht das Gesicht. Ihre Mutter ist im Moment ebenso arbeitslos und investiert das bisschen Geld, das sie hat, in Zigaretten. „Mama, du sollst doch nicht so viel rauchen, ich hab doch erst gestern welche geholt.“ „Red nicht so viel, geh lieber!“ motzt ihre Mutter. Hanna senkt den Kopf, schnappt sich ihre Jacke und verlässt das Haus. Vor dem Haus blüht gerade alles. Es ist Frühling, Hannas Lieblingsjahreszeit. Eigentlich ist sie in dieser Zeit kaum zu halten, vor Energie und Motivation. Die aktuellen Umstände verändern Hannas innere Einstellung. Sie ist traurig, wütend und enttäuscht. Von ihrer Kollegin, von ihrer Mutter und von sich selbst. Sie geht gedankenverloren über den Zebrastreifen und plötzlich hört sie quietschende Reifen. Dann ist alles schwarz.

Hanna wacht in einem hellen Raum auf. Sie hört ein regelmäßiges Piepsen und riecht Desinfektionsmittel. Na klasse, jetzt hatte ich auch noch einen Unfall, denkt Hannah bei sich. Sie sieht ein unbekanntes Gesicht und das ihrer Mutter. „Oh mein Gott, endlich bist du wach. Es tut mir so leid Hanna, ich hätte dich nicht zum Supermarkt schicken dürfen.“ Die Mutter weint. Hanna hat ihre Mutter noch nie so weinen sehen, nicht einmal, als Hannas Vater sie verlassen hat. „Mama, ist schon gut. Mir geht’s ja gut, beruhige dich“, flüstert Hanna. „Nein, es geht dir nicht gut, beide Beine sind gebrochen.“ „Ja, aber die heilen wieder“, sagt Hanna zuversichtlich wie immer. „Das hat mich wachgerüttelt, liebe Hanna. Ich war nicht nett zu dir und ich war faul. Die ganze Situation hat mich überfordert. Gleich morgen gehe ich auf Arbeitssuche. Ich verspreche es.“ „In Ordnung, Mama. Kann ich jetzt noch ein bisschen schlafen? Ich bin erledigt.“ „Natürlich. Schlaf noch eine Runde. Das hier ist Doktor Becker, er ist für dich zuständig, aber er kann auch später mit dir sprechen.“ „Ja, ich komme später wieder“, erwidert der Arzt. Hanna schließt die Augen und sinkt sofort in einen tiefen Schlaf.

Ausgeruht setzt sich Hanna auf. Eine Schwester kontrolliert gerade den Tropf. Doktor Becker steht neben der Schwester „Guten Morgen, Hanna. Sie hatten echt Glück im Unglück. Andere hätten diesen Unfall nicht überlebt. Schön, dass Sie es geschafft haben. Der Gips muss sechs Wochen an den Beinen bleiben. Dann können Sie wieder ohne Probleme tanzen gehen.“ „Danke“, sagt Hanna. Der Arzt lächelt und geht. „Kann ich etwas zu trinken haben, ich verdurste“, sagt Hanna mit leiser Stimme. „Natürlich, ich bringe Ihnen sofort etwas. Draußen wartet übrigens ein Mann, der Sie besuchen möchte. Kann ich ihm sagen, dass er ins Zimmer darf?“, fragt die Schwester vorsichtig. „Welcher Mann?“, fragt Hanna. „Keine Ahnung“, erwidert die Krankenschwester. „Na gut, dann soll er hereinkommen.“ Hanna ist zwar nicht in Stimmung für Besuch, aber egal. Die Schwester verlässt das Krankenzimmer, das Hanna trotz mehrerer Betten für sich alleine hat.

Die Tür geht auf und ein älterer Herr betritt den Raum. „Hallo Hanna. Es tut mir so leid.“ „Was tut Ihnen leid, ich kenne sie nicht.“ „Ich habe das Auto gefahren, das Ihnen die Beine gebrochen hat.“ Er beginnt zu weinen. „Aber, aber, ich denke, Sie haben das nicht absichtlich gemacht. Nicht weinen. Wie heißen Sie denn?“ „Mein Name ist Fischer. Herbert“ schluchzt der alte Mann. „Fischer? Ich kenne einen Fischer. Das war mein alter Boss.“ „Das ist vermutlich mein Sohn. Der ist zum Teil Schuld an dem Unfall. Er hat mir gesagt, dass ich in ein Altenheim gehen soll. Aber ich fühle mich noch nicht bereit. Und als ich so in Gedanken war, sind Sie plötzlich vor meinem Auto gestanden. Es tut mir wirklich leid.“ Wieder läuft ihm eine Träne über die Wange. Hanna weiß nicht, was sie darauf sagen soll. „Aber Ihr Sohn hat doch ein Pflegeunternehmen, warum stellt er nicht jemanden für Sie zur Verfügung?“ „Das weiß ich nicht, meine Liebe. Ich denke, er will keine Verantwortung für mich tragen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Für ihn war nicht der beste Vater. Immer habe ich gearbeitet und kaum Zeit für ihn gehabt. Jetzt ist er genauso geworden wie ich. Ständig beschäftigt und keine Zeit für niemanden.“ Der alte Mann setzt sich auf einen Stuhl und holt tief Luft. Auf einmal hebt er den Kopf und in seinen Augen glänzt es. „Hanna, Sie sind doch Pflegerin, oder?“ „Ähm, jetzt nicht mehr, ihr Sohn hat mich gefeuert.“ „Möchten Sie für mich arbeiten? Ich zahle das Doppelte von dem, was mein Sohn gezahlt hat. Als Wiedergutmachung.“ Hanna überlegt und sagt zögerlich: „Darf ich darüber nachdenken?“ „Natürlich. Ich habe auch eine Personalwohnung über meiner Wohnung. Da könnten Sie einziehen, wenn Sie möchten. Natürlich kostenlos.“ Hanna lächelt. Es wäre toll, wieder in einer eigenen Wohnung zu wohnen und das Angebot ist echt verlockend. „Schlafen Sie noch einmal darüber. Ich besuche Sie morgen noch einmal.“ „Ja, gut. Ich bin immer noch sehr müde.“ Die Schwester kommt mit einem Krug Wasser in das Krankenzimmer. Hanna gähnt. „Kommen Sie ein anderes Mal wieder. Die Patientin muss sich ausruhen“, ermahnt die Schwester Herrn Fischer. „Alles klar. Bis morgen, Hanna.“ „Bis morgen.“ Hanna gähnt noch einmal. Die Schwester schenkt Hanna ein Glas ein. Aber da ist Hanna schon wieder eingeschlafen.

Zwei Wochen später liegt Hanna in ihrem eigenen Bett im Haus ihrer Mutter. Diese hat die Pflege ihrer Tochter übernommen und sie hat auch wieder einen Job als Friseurin bekommen. „Wie geht es dir, meine Liebe?“ „Danke, Mama, mir geht’s gut. Der Gips juckt fürchterlich, aber da kann man nichts tun“, lacht Hanna. „Da kann ich dir leider nicht helfen. Aber ich hab mit dem alten Mann gesprochen. Er freut sich darauf, dass du für ihn arbeitest.“ „Ja, er ist ein netter Mann. Die Arbeit ist genau richtig für mich. Ich bin schon gespannt auf die Wohnung, die er mir versprochen hat.“ „Ja, ich auch, obwohl du jederzeit hier wohnen kannst.“ „Ich weiß, Mama, aber ich stehe gerne auf eigenen Beinen. Zusätzlich bekomme ich ja auch Herrenbesuch und da hab ich gerne meine eigenen vier Wände.“ Hanna zwinkert ihrer Mutter zu und die lacht. „Ja, ich hab es mitbekommen. Der junge Mann aus dem Krankenhaus war verdächtig oft in deinem Zimmer.“ Jetzt zwinkert die Mutter ihrer Tochter zu. „Er heißt Marcus. Er ist sehr nett.“ Hanna wird rot. „Na, dann sagen wir mal, das Sprichwort stimmt. Es wird zuerst schlimmer, bevor es gut wird.“ Hanna denkt darüber nach und über die letzten Tage. Das Sprichwort passt haargenau. Sie grinst.

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error: Na na na, wer wird denn hier meinen Inhalt mitnehmen ;-) Versuch doch einmal selber eine Geschichte zu schreiben :-)